Freitag, 1. November 2019

Kritik: Darum funktioniert "Doctor Sleep" als Horrorfilm – aber nicht als Fortsetzung zu Kubricks "Shining"

© Warner Bros.
Ende der 1970er Jahre schnappte sich Stanley Kubrick den erst kurz zuvor veröffentlichten Horror-Bestseller "The Shining" des jungen, aufstrebenden Autors Stephen King – und schmiss den meisten übernatürlichen Spuk des Romans in den Papierkorb, machte zusammen mit Schriftstellerin Diane Johnson sein ganz eigenes Ding aus der Vorlage.

King war von Kubricks Version alles andere als begeistert, in der Filmwelt gilt der 1980 in den Kinos angelaufene "Shining" heute dennoch als einer der größten Horror-Klassiker überhaupt. Auch fast 40 Jahre nach der Premiere wird über die zahllosen (beabsichtigten wie unbeabsichtigten) Metaphern diskutiert, Jack Nicholsons Jack Torrance taucht in eigentlich jeder Liste mit den besten Film-Bösewichten aller Zeiten auf.

"Doctor Sleep": Die späte Fortsetzung


Aber auch Stephen King ging die Geschichte um die Torrance-Familie und das Overlook-Hotel nicht aus dem Kopf, sodass er die Geschichte des mit dem Shining ausgestatteten Torrance-Sprößlings Danny viele Jahre später weitererzählte. 2013 erschien "Doctor Sleep", darin wird der mittlerweile erwachsene und zwischenzeitlich stark dem Alkohol verfallene Danny zum Mentor der jungen, ebenfalls übersinnlich begabten Abra.

Gemeinsam nehmen sie es mit einem Clan von uralten Wesen um die verführerische wie skrupellose Rose the Hat auf, die sich vom sogenannten Steam ernähren, der sie viele hundert oder sogar tausend Jahre alt werden lässt und den sie gewinnen, indem sie Kinder einen grausamen Tod sterben lassen.

"Doctor Sleep" erregt die Aufmerksamkeit Hollywoods


Wenn der wohl berühmteste Horror-Autor der Welt eine Fortsetzung zu einem der bekanntesten Horrorfilme überhaupt veröffentlicht, dann bleibt das in Hollywood natürlich nicht unbemerkt. Nur wenige Monate später began bei Warner Bros. die Entwicklung des "Doctor Sleep"-Films. Inszeniert wurde er schließlich von Mike Flanagan – durch Titel wie "Oculus" (2013), der King-Adaption "Das Spiel" (2017) oder der Netflix-Serie "Spuk in Hill House" (2018) aktuell einer der gefragtesten Horror-Regisseure.

Die Rolle des sich nun in seinen 40er befindenden Danny Torrance übernahm Ewan McGregor, Rebecca Ferguson ("Mission: Impossibe - Fallout") setzte sich den Zylinder der über 700 Jahre alten, aber verführerisch schönen Bösewichtin auf. Die junge Nachwuchsdarstellerin Kyliegh Curran ergatterte die Rolle der taffen Abra. Und am 21. November 2019 startet "Stephen Kings Doctor Sleeps Erwachen", wie der Film vom deutschen Verleih tatsächlich umgetauft wurde, nun in den hiesigen Kinos.

Aber wie gut ist er? Kann er dem Kubrick-Klassiker nur ansatzweise das Wasser reichen?

Darum ist "Doctor Sleep" keine gute "Shining"-Fortsetzung


Anlässlich des bevorstehenden Kinostarts von "Doctor Sleep" hatte ich die Gelegenheit, in Los Angeles Interviews mit den Hauptdarstellern, Regisseur Mike Flanagan sowie Produzent Trevor Macy zu führen und den Film dort bereits zu sehen. Beim Screening gab es Standing Ovations, auch die Reaktionen der internationalen Pressekollegen sind fast durch die Bank weg positiv. Flanagan und Macy schwärmten gar davon, dass sowohl Stephen King selbst als auch die Mitglieder des Kubrick Estate begeistert von "Doctor Sleep" seien.

Leider kann ich in diese Lobeshymnen nicht aus voller Kehle mitsingen. Es gibt nämlich ein ganz großes Problem an Flanagans Film, das dafür sorgt, dass er keine gutes Sequel zu Kubricks "Shining" geworden ist: "Doctor Sleep" ist eine Adaption des gleichnamigen Buches, das selbstverständlich ein Sequel zu Kings Roman von 1977 ist, der – wie zu Beginn erwähnt – nicht allzu viel mit dem 1980er Film am Hut hat.

Gleichzeitig soll der bald startende Kinofilm jedoch eine direkte Fortsetzung vom Kubrick-Meisterwerk sein, woraus auch absolut kein Hehl gemacht wird. Es stand im Mittelpunkt des Marketings, zudem gibt es an jeder Ecke eindeutige Verweise auf Kubricks "Shining". Vor allem die gesamte letzte halbe Stunde ist eine einzige Hommage.



Beides zusammen funktioniert aber nicht. "Doctor Sleep" fühlt sich nicht an, als würde er in derselben Welt wie Kubricks Film spielen. Wo der Meisterregisseur sich noch fast allen Übernatürlichkeiten verweigerte, zelebriert sie Flanagan ebenso wie King in seinen beiden Romanen. Das wäre vollkommen okay, würde man nicht parallel dazu fast zwanghaft versuchen, so oft wie möglich an den Horror-Meilenstein anzuknüpfen.

So liebevoll die Anspielungen und Hommagen auch gemacht sind und so sehr man auch spürt, wie sehr Flanagan und Co. "Shining" verehren – es fühlt sich an, als wäre es mit Gewalt in einen Film gepresst, der ansonsten gar nichts mit Kubricks Film zu tun hat. Fast als hätte man einen übernatürlichen Horrorfilm gedreht und erst in der Postproduktion entschieden, daraus eine "Shining"-Fortsetzung zu machen, um ein größeres Publikum anzulocken.

Darum solltet ihr "Doctor Sleep" trotzdem gucken!


Nun ist aber bald mal Schluss mit der Meckerei. Zwar ist auch die Geschichte nicht zu 100% stimmig, die zweieinhalb Stunden sind nicht frei von Längen und so manche Figur hätte etwas mehr Raum benötigt, um nicht bloß als flaches Abziehbild  zum Vorantreiben der Story da zu sein, aber davon abgesehen ist "Doctor Sleep" ein durch und durch solider Horror-Thriller, an dem eine ganze Menge stimmt. Wie bereits angeschnitten sind die Momente, in denen Mike Flanagan einen seiner Lieblingsfilme (wie er mir im Interview erzählt hat) hochleben lässt, wirklich mit viel Liebe zum Detail in Szene gesetzt.

Darüber hinaus zahlt sich erneut die Art aus, wie Flanagan Horrorfilme inszeniert. Statt auf billige Jumpscares setzt er auf gemächlichen Aufbau einer schaurigen Stimmung, immer wieder unterbrochen von sehr wirkungsvollen, aber nur ganz selten mal platten Schockmomenten.

Zur Atmosphäre des Films trägt auch der großartige Score der Newton Brothers bei, die bereits seit "Oculus" mit Flanagan zusammenarbeiten – in ohnehin schon starke neue Arrangements arbeiten sie immer wieder die legendäre Musik aus "Shining" ein, ohne es jedoch mit Zitaten zu übertreiben.



Zu guter Letzt sind aber auch die Darsteller von "Doctor Sleep" ein wahres Pfund. Allen voran Rebecca Ferguson, die aus ihrer leider nicht perfekt ausgearbeiteten Figur das Maximum herausholt und auf eine stellenweise wirklich angsteinflößende Art und Weise verführerische Sexyness mit skrupelloser Diabolik mischt.

Eine wahre Entdeckung ist zudem die junge Kyliegh Curran – es wäre verwunderlich, wenn wir die 13-Jährige in den nächsten Jahren nicht noch in dem ein oder anderen Blockbuster sehen (als nächstes steht für sie die Disney+-Mystery-Serie "Sulphur Springs" an). Und auch Ewan McGregor spielt gewohnt überzeugend, lässt zwischenzeitlich sogar einen großartigen Nicholson-Jack-Torrance raushängen.


Fazit: "Doctor Sleep" scheitert zwar an dem Versuch, eine gute Fortsetzung zu Kubricks "Shining" zu sein, Mike Flanagans Inszenierung und die tollen Darsteller machen ihn aber dennoch zu einem soliden bis guten Horror-Thriller.



Donnerstag, 30. April 1970

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